„Ein verstörtes Kind sollte uns stutzig werden lassen“
Ob Zufallsfund oder akuter Notfall: bei einem Verdacht auf Kindesmisshandlungen spielen bildgebende Verfahren wie Röntgen, Computertomografie und Magnetresonanztomografie eine zentrale Rolle in der Diagnose typischer Verletzungen. Auf welche Anzeichen Kinderradiologen achten, erklärt Prof. Dr. Hans-Joachim Mentzel, Leiter der Sektion Kinderradiologie am Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie am Universitätsklinikum Jena und 1. Vorsitzender der Gesellschaft für Pädiatrische Radiologie (GPR), im Interview.
DRG: Wie stark sind Sie in Ihrem Arbeitsalltag mit dem Thema Kindesmisshandlung konfrontiert?
Prof. Dr. Hans-Joachim Mentzel Prof. Dr. Hans-Joachim Mentzel: Das Thema Kindesmisshandlung haben wir als Kinderradiologen immer im Hinterkopf, wenn wir Bilder analysieren und auf Zufallsbefunde stoßen. In den glücklicherweise seltenen Situationen, in denen ein mit massiver Gewalt geschütteltes Kind komatös mit dem Notarzt eingeliefert wird, läuft checklistenartig die bildgebende Diagnostik ab – eine Notfall-Computertomografie, um rasch notwendige Operationen zu veranlassen – und anschließend je nach Befund die weitere Umgebungsdiagnostik. Der Kinderradiologe ist bei der Auswahl und Durchführung der geeigneten Methoden besonders gefordert, um auch in diesen Situationen den Strahlenschutz nicht zu vernachlässigen. Bei den sogenannten „Unfällen“ müssen wir uns immer fragen, ob der nachgewiesene Knochenbruch auch zum geschilderten Unfallhergang und Alter des Kindes passt. Gibt es diesbezüglich Zweifel, so wird ein Alleingang des Radiologen nicht empfohlen. Wir suchen das Gespräch mit dem Kinderarzt bzw. Kinderchirurgen, um deren Eindruck vom häuslichen Umfeld des Kindes und der Glaubwürdigkeit der Schilderungen zu erfragen. Zudem besprechen wir das weitere Vorgehen gemeinsam. Zum Ausschluss oder Nachweis von weiteren Verletzungsfolgen ist in Abhängigkeit vom Alter des Kindes nach Leitlinie dann eine Reihe weiterer Röntgenuntersuchungen erforderlich, die in der Kinderradiologie mit hoher Qualität anzufertigen sind. Am Universitätsklinikum Jena befindet sich die Thüringer Ambulanz für Kinderschutz in unmittelbarer Nähe zur Kinderradiologie, sodass wir kurze Wege haben und uns unmittelbar gegenseitig beratend zur Seite stehen können. Ganz wichtig ist die Zusammenarbeit mit den Rechtsmedizinern, die alle in Thüringen anfallenden Fälle körperlicher Misshandlung bearbeiten. Im Alltag werden wir auch häufig von Radiologen und Kinderschutzgruppen aus anderen Kliniken mit der Thematik konfrontiert, um das Vorgehen bei der Bildgebung abzustimmen und bei der Beurteilung und Bewertung der erhobenen Befunde zu beraten.
Welche Verletzungen sind im Zuge von Misshandlungen aus Ihrer Erfahrung besonders häufig anzutreffen?
Die radiologisch sichtbaren Verletzungsfolgen sind abhängig vom Ausmaß des Traumas und vom Alter des Kindes. Das reicht von einfachen Frakturen bis zu schwersten Hirnverletzungen beim Schütteltrauma des Säuglings mit Frakturen des Schädels, Einblutungen im Bereich der Netzhaut und unter die Hirnhäute sowie Zerreißungen und Quetschungen im Hirngewebe, die regelmäßig zu bleibenden Schäden beim Kind führen. Sehr häufig sind nach einer bundesweiten Studie, die wir vor einigen Jahren durchgeführt haben, bei Misshandlungsfällen Brüche der Rippen an typischen Stellen und Brüche im Bereich der Arme und Beine – zum Beispiel durch Abwehr des Angriffs oder gewaltsames Verdrehen. Spezifisch sind dann auch die Kantenabsprengungen im Bereich der Wachstumsregion der Knochen.
Ist die Sensibilität für das Thema in unserer Gesellschaft, aber auch im ärztlichen Kollegenkreis, inzwischen im notwendigen Maß vorhanden, oder besteht aus Ihrer Sicht noch Aufklärungsbedarf?
Wir dürfen auch bei hohem Informationsgrad zum Thema Kindesmisshandlung durch die Medien nicht müde werden, immer weiter zu appellieren, auf Anzeichen für eine mögliche Kindeswohlgefährdung in unserer Umgebung zu achten. Die für uns Radiologen sichtbaren Verletzungsfolgen am Hirn, den inneren Organen und am Skelett sind von außen nicht sofort festzustellen. Da sind blaue Flecke offensichtlicher. Ein verstörtes, plötzlich verhaltensauffälliges Kind sollte uns stutzig werden lassen. Auch im ärztlichen Kollegenkreis sind wir gefordert, stetig an die Thematik zu erinnern. Sowohl bei Kinderärzten, -chirurgen als auch bei Radiologen gibt es eine Vielzahl von Weiterbildungen, die das Thema beinhalten. Aber auch andere ärztliche Gruppen, wie beispielsweise Zahnärzte, sollten in größerem Umfang als bisher über die Aspekte des Kinderschutzes aufgeklärt werden.
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